Die „edition H“

HEIMERZIEHUNG IN DER DDR IN SELBSTZEUGNISSEN

 

Urlaubserinnerungen eines Freundes – schön gesetzt, Papier, das ich gern anfasse, ein Umschlag – eine kleine Kostbarkeit. Kostbarkeit – ein Wort, das schon bei EINSCHLUSS eine Rolle spielte: EINSCHLUSS – das Wort aus dem Knast- (und Heim-) jargon mit ganz eigenen akustischen Assoziationen, die seltenen Insekten im Bernstein – Kostbarkeit und gleichwohl Resultat einer Tragödie…

Dabei kam die Idee, die Erinnerungen an meine „Expedition“ zu veröffentlichen.

Selbstzeugnisse ehemaliger Heimkinder von einer unverwechselbaren Qualität, Dokumente in einer völlig unpathetischen Nüchternheit…

 

    • Nikolaus Lang. ich habe das Werk seit langem verfolgt, habe ihn auch vor einigen Jahren mal getroffen. Es gibt einen sehr schönen Film über seine Arbeit und seine Arbeitsweise. Ich weiß aber nicht, ob der irgendwie und irgendwo anzusehen ist.
    • In öffentlichen Sammlungen habe ich noch nichts von ihm gesehen, nur in Sonderausstellungen an sehr prominenten Orten, dokumenta, Lenbach-haus München z.B.
    • Viel wichtiger: Ich hatte noch einmal im dem Buch zu seiner Arbeit "Nunga und Goonya" über seine Australien-Arbeiten gelesen und mir einige Sätze ins Tagebuch notiert. Ich besitze dieses Buch schon recht lange, habe auch immer mal wieder reingesehen und finde jetzt Passagen, die ich so ähnlich über meine Arbeit mit den Heimkindern geäußert habe, nämlich, dass ich diese Arbeit, das Eintauchen in ihre Welt in den Gesprächen als eine Art Expedition gesehen habe, während derer ich in einer mir bislang fremden Welt unterwegs war. Es war mir klar, dass es sich um eine Art Kunst handelt, was ich da mache, dass es aber weder problemlos in künstlerische Referenzsysteme noch gar in wissenschaftliche einzuordnen war.
    • Jetzt finde ich im Text zu N.L.
    • gleichzeitig holt er aus der Vorzeit, die in Australien gleichzeitig mit der unseren gewesen ist, einen Bumerang in die Gegenwart.
        • Notiz von mir: meine Zeit im Heim... ich erinnere mich, dass Felix Droese eine seiner bekanntesten Arbeiten betitelte: „Ich habe Anne Frank umgebracht“.
    • Er ist weder Prediger noch Ankläger und schon gar kein Richter, nur ein Fremder, ein von weither und verspäteter Hinzugekommener.
    • Er legt ein visuelles Gedächtnis an, das nicht auf Fakten und Zahlen, sondern auf persönlicher Erfahrung beruht. Durch sein Nacherleben legt er Situationen offen, die sonst mit ihrem Umfeld verschüttet würden.

edition H – H wie Heim, H wie Heumannhaus – Gegenstand und Ort des verlege-rischen Projektes: Malereien, Zeichnungen, Briefe, Texte abseits des mainstreams von Erinnerungsliteratur und Betroffenheitskitsch, dazu in der Reihe Materialien Dokumente z.B. eine Woche im Durchgangsheim Schmiedefeld, gespiegelt an Eintragungen im Isolierbuch und im Dienstbuch…

Künstlerbücher aus Funden und Spurensicherungen.

 

Band 1 -  ICH; GISELA SCHUBERT

Zunächst in Bildern, die Unbekümmertheit und Regellosigkeit von Kinderzeich-nungen mit der Wucht wieder und wieder hereinbrechender traumatischer Erinnerungen vereinen, später in Texten, die eine Sprache aus dem Innenraum des Traumas wie selbstverständlich finden, hat Gisela Schubert, wie sie sich jetzt (wieder) nennt, ihren Ausdruck gefunden, Äußerungen, die aufwühlen und verstören.

 

  • Es sind Zeitzeugnisse und Einblicke in das Leben von Menschen wie Gisela Schubert, die so eindringlich deutlich machen, was geschieht, wenn die Würde eines Menschen –  und ganz besonders die eines Kindes – verletzt wurde.
  • Biographien wie diese sind für mich – und ich glaube das auch im Namen vieler Kolleginnen die sich für die Verwirklichung der Kinderrechte stark machen sagen zu können – ein regelrechter Antriebsmotor. Sie machen deutlich, warum es so wichtig ist, dass Staaten die Rechte von Kindern als Subjekte mit ihrer ganzen Eigenheit achten, respektieren und schützen:
  • Mein ausdrücklicher Dank gilt Frau Schubert und vielen anderen ehemaligen Heimkindern, die ich in meinen Arbeitszusammenhängen kennenlernen durfte. Mit Ihrem Mut, über sich, Ihre Gefühle und Ihre Geschichte zu berichten, helfen Sie, gute Lösungen für heute entwickeln zu können, damit künftig mehr Kinder in der Gewissheit aufwachsen können, von niemandem mehr zum Objekt gemacht werden zu dürfen.
  • Danke!
  •       aus dem Vorwort von Claudia Kittel
  • Claudia Kittel, Dipl. Päd., leitet seit 2015 die Monitoring-Stelle UN-Kinder-rechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte und war zuvor Sprecherin der National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention e.V. sowie viele Jahre wissenschaftliche Referentin der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe e.V. u.a. als Leitung der dort angesiedelten Geschäftsstelle zur Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR.
  • Oft ist es wenn der Tag Kein Ente hat, und hat
  • er ein Ende, und die Dunkelheit kommt, die Anst,
  • zu schlafen, weil ein die unendlichkeit keine
  • Ruhe gibt, weil mann dann immer an das denk
  • was hast Du Falsch gemacht?
  •    [Orthografie und Zeileneinteilung so im Original - M.M]
  • „Wenn der Tag kein Ende hat...“
  • Wenn die Erinnerung kein Ende hat…
  • Der erste Besuch bei G.B. war im Mai 2011. Eine Kollegin begleitete mich; an G.s Seite waren ihr Ehemann, eine Freundin. Sie hatte den Besuch gewünscht. Eruptiv kam es aus ihr; die ganze Bandbreite ihrer Themen war angedeutet, ausgespuckt, ausgesprochen nicht, noch längst nicht.
  • Weitere Besuche folgten, unterbrochen von Pausen, von zum Teil langen, sehr langen Pausen – bis hin zu einer nun über mehrere Jahre gehenden intensiven Zusammenarbeit.
  • Es ist der erste Band der edition H – ganz selbstverständlich.
  • Er ist gewissermaßen der Maßstab, an dem sich die folgenden Veröffentlichungen messen lassen sollen, fernab der bekannten Erinnerungsliteratur, der bekannten Betroffenheitsmalerei.
            • aus dem Vorwort des Herausgebers

Band 2 – WIE GEHT ES DIR, MIR GEHT ES GUT

62 Briefe sind erhalten geblieben, die Alexander Matzke an seine Mutter Gisela schrieb. Einige wenige aus einer durch die Erkrankung der Mutter bedingten Trennung. die anderen aus dem Durchgangsheim Schmiedefeld, aus dem Spezial-Kinderheim Wenigenlupnitz und aus dem Jugendwerkhof Wittenberg.

Alexander Matzke lebt heute als Selbständiger in der Schweiz; Gisela Matzke – früher Fernseh- und Rundfunkjournalistin, bis heute Moderatorin, Autorin – lebt in Thüringen. Sie hat den Briefen Alexanders fünf literarische Miniaturen beigegeben, in denen sie Erlebnisse aus der durch die Jugendhilfe angeordneten Trennung von Sohn und Mutter berichtet.

  • Ein Stapel Briefe – Briefe eines Jungen an seine Mutter – aus dem Durchgangs-heim Schmiedefeld, aus dem Spezial-Kinderheim Wenigenlupnitz, aus dem Jugendwerkhof Wittenberg; einige wenige aus einer Trennung von Mutter und Sohn davor. Es gibt eine Lücke, über die geschwiegen wird.
  • Der Junge ist am Beginn 14 Jahre alt; er wird knapp 18 sein, wenn er entlassen wird.
  • Alexander Matzke schreibt in einem seiner Briefe aus dem Durchgangsheim Schmiedefeld, der ersten Station in seiner Heimbiografie, wo er zweieinhalb Monate verbrachte: „Schreiben darf [ich] nur am Wochenende, 3 Briefe.“
  • Über das Lesen der Briefe von „draußen“ wissen wir so gut wie nichts. Ich habe, als das Projekt der Briefpublikation Form annahm, immer wieder gefragt: Wie war das mit der Post ins Heim? Wie durftet ihr lesen? Durftet ihr die Briefe behalten? Alle Antworten waren vage. Der Besitz persönlicher Dinge war auf ein äußerstes Minimum beschränkt. Briefe der Mütter, der Geschwister, der Freundin oder des Freundes ins Heim sind in den meisten Fällen nicht erhalten. In den 530 archivierten „Übergabeprotokollen“, die beim Wechsel aus dem Durchgangsheim Schmiedefeld in ein anderes Heim angefertigt wurden, und die auf der Formularrückseite armselig geringe private Habseligkeiten auflisteten, findet sich in ganzen neun Fällen die Notiz über aufgehobene Briefe. Auf dem Übergabeprotokoll für Alexander, angefertigt bevor er von Schmiedefeld nach Wenigenlupnitz in das dortige Spezial-Kinderheim, auf „Transport“ geschickt wurde, ist kein Brief erwähnt.
  • Im Dienstbuch des Durchgangsheimes, ist die Schreibsituation vom Aufsicht führenden Erzieher protokolliert:
    • [Sonntag] 17.02.85 Frühdienst Koll. M. 7 – 14:00 Uhr
    • 8:00 Wecken – Morgentoilette – Frühstück
    • Post:
    • D. an Fam. R. [Eltern], S.
    • S. an Fam. S. [Eltern], S.
    • A. an C. [Mutter], I.
    • K. an L. (Mutter], M.
    • [Unterschrift] M.
    • übernommen [Unterschrift] 14:00 Uhr
    • 17.02.85 Spätdienst 14:00 – 21-30 Koll. M.
    • A. und D. mußten ihre Briefe noch einmal schreiben, da sie Zahleninfor-mationen über das Heim hineingeschrieben haben und A.s Brief sehr anmaßend war. (Liegt ohne Kuvert auf dem Schreibtisch)…
  • Im Gespräch am 11. Mai 2017 sagt mir Gisela Matzke: „Niemand hat sich für mein Kind interessiert, als Alexander weg war. Niemand hat nach ihm gefragt.“ - diese unheimliche Übereinkunft derjenigen, die froh waren, dass der Störenfried, „weg war“.
  • 62 Briefe: beim Lesen müssen wir die Situation, in der die Briefe entstanden sind, im Kopf haben. Wir müssen zwischen den Zeilen lesen. Wir müssen auch die immer wiederkehrenden Formulierungen über uns ergehen lassen. Eine Auswahl, das Prinzip des Einen, Beispielhaften für Alle wird nicht funktionieren. Wir müssen uns durch die Einförmigkeit quälen, Wiederholungen als Indiz für Sprachlosigkeit hinnehmen, um die Verarmung der Kommunikation zwischen Sohn und Mutter auch sinnlich wenigstens ansatzweise erfassen zu können.
  •       aus dem Vorwort des Herausgebers

Die Bände 3 und 4 werden als Begleitpublikation zur Ausstellung DURCHGANG in der Gedenkstätte Andreasstraße. (9. Oktober 2018 – 21. Januar 2019, Kurator: Manfred May) erscheinen: edition H – Materialien: Das Durchgangsheim Schmiede-feld, sein Selbstbild in Isolier-/Arrestbuch und Dienstbuch

 

Manfred May, Benshausen 2018

 

 

 

 

edition H – öffentlich, die Termine:

 

Tag des offenen Denkmals 2018 – 9. September

Heumannhaus Benshausen

10 – 18 Uhr geöffnet, Weinfest

Ausstellung: Manfred May / Arbeiten auf Papier – visuelle Dichtung

Das Projekt edition H

 8. September – 16.30 Uhr

 St.  Sigismund Kapelle Plaue

    • Eröffnung  der Ausstellung Manfred May – Stimmen (Installation)
    • Vorab-Lesung  „ICH; GISELA SCHUBERT“  -  edition H (1)

9. Oktober 2018 – Ausstellungseröffnung DURCHGANG – Stimmen/Spuren/Wege aus dem Durchgangsheim Schmiedefeld

 

31. Oktober 2018 – Heumannhaus

Präsentation des Projekts edition H, Vorstellung der ersten beiden Bände, Lesung